"Der Genius der Menschheit
liegt nicht in der Intelligenz,
sondern in der Affektivität,
die sich an Toleranz, Mitgefühl,
Freundschaft und Liebe orientiert."
Rolando Toro

Die sieben „Wandlungskräfte“ von Biodanza

(Aus: Das System Biodanza, Rolando Toro, mit freundlicher Genehmigung des Tinto-Verlags)

Der pädagogische und therapeutische Erfolg von Biodanza ist der Tatsache zu verdanken, dass die Methode auf den Organismus als Ganzes wirkt und zu existentieller Rehabilitation führt. Dies geschieht durch die

Kraft der Musik

Kraft des integrierenden Tanzes

Kraft einer am Erleben ausgerichteten Methode

Kraft der Zärtlichkeit

Kraft der Trance

Kraft der Bewusstseinserweiterung

Kraft der Gruppe

 

Jede dieser Kräfte für sich genommen trägt zur Wandlung bei. In einem theore­tischen und wissenschaftlichen Modell in einen kohärenten Gesamtzusammen­hang gebracht, stellen sie eine Fülle an Ökofaktoren von so außerordentlicher Wirksamkeit dar, dass sie sogar die genetische Programmierung beeinflussen können.

Kraft der Musik

In den Mythen der westlichen Welt taucht die Kraft der Musik mit Orpheus auf. Mit der von Apollo empfangenen Lyra vermochte er durch integrierende Musik, die Naturgesetze und die geheimnisvollen Organisationsmuster des Le­bens zu beeinflussen. Er konnte mit seiner Musik wilde Tiere beruhigen und sogar im Winter Bäume zum Blühen bringen.

In Japan, China und Ländern des Orients weiß man seit Menschengedenken um die Kraft der Musik. Anthropologen wissen, dass Schamanen, tibetanische Mönche und Sufi-Tänzer Musik verwendeten, um Heilungskräfte zu wecken und die Verbindung mit dem Kosmos zu beschwören.

Aktuelle wissenschaftliche musiktherapeutische und musikpsychologische Forschungen bestätigen die machtvolle Wirkung von Musik. Man muss sich nur mit den Arbeiten von Alfred Tomatis, Don Campbell, Yehudi Menuhin und Michel Imberty beschäftigen, um zu verstehen, dass Musik sich nicht auf das Wahrnehmungsfeld der Sensibilität und die Erneuerung beschränkt, sondern Wandlungskräfte besitzt, die sich auf Pflanzen, Tiere und vor allem Menschen auswirken.

Wenn wir dem Universum lauschen, so lehrt uns Alfred Tomatis, öffnet sich die Wahrnehmung wieder in all ihren Dimensionen und es bilden sich erneut wesentliche Verbindungen zur Umwelt und anderen Menschen.
Don Campbell hat entdeckt, dass bestimmte musikalische Werke von Mozart kognitive und Wahrnehmungsfunktionen stimulieren können. Außer von ei­nem Mozart-Effekt könnte man auch von einem Vivaldi-Effekt, Bach-Effekt oder Debussy-Effekt sprechen.
Yehudi Menuhin hat die Beziehung von Musik und Neurowissenschaften er­forscht und nachgewiesen, dass Musik sich auf neurophysiologische Funktio­nen und kindliches Verhalten auswirkt.
Michel Imberty, einer der größten Experten für musikalische Semantik, hat verschiedene musikalische Themen und ihren emotionalen Bedeutungsgehalt analysiert.
Ralph H. Gundlach (1935), Kate Hevner (1936), Frank C. Campbell (1942) und lohn B. Watson (1942) haben ebenfalls Studien zur musikalischen Se­mantik durchgeführt. Viele weitere Forscher unserer Zeit haben nachgewiesen, dass lebendige Organismen von Musik beeinflusst werden.

In Biodanza unterliegt die verwendete Musik strengen Auswahlkriterien. Da­durch soll gewährleistet werden, Ökofaktoren zu fördern, die mit den fünf Er­lebnislinien übereinstimmen.

Als organische Musik bezeichnen wir Stücke mit koenästhetischer Wirkung und biologischen Eigenschaften wie Fluss, Harmonie, Rhythmus, Tonus und einheitlichen Sinn. Solche Musik besitzt die Kraft, integrierendes Erleben aus­zulösen.
Da Musik zu intensivem Erleben führen kann, wird sie in Biodanza nach se­mantischen Kriterien ausgewählt. Bei der Auswahl wird also auf die thema­tischen, emotionalen und erlebnisbezogenen Bedeutungsgehalte der Musik geachtet. Musik kann erotische Gefühle und Emotionen, Euphorie, Nostalgie etc. wachrufen, die sich, indem sie getanzt werden, in Erlebnisse verwandeln.

Kraft des integrierenden Tanzes

Das Biodanza-Repertoire umfasst etwa zweihundertfünfzig Tänze und Übun­gen, deren Ziel es ist, Menschen anzuregen, sich auf harmonische und integrie­rende Weise zu bewegen. In Biodanza gibt es keine des-integrierende Bewe­gungen. Es gibt vielmehr eine Reihe von Übungen zur senso-motorischen und affektiv-motorischen Integration sowie zur koenästhetischen Sensibilität. Eine weitere Gruppe von Übungen besteht aus einfachen Tänzen, die das Erleben von Vitalität, Sexualität, Kreativität, Affektivität und Transzendenz anregen.

In Biodanza verwandelt sich Musik in körperliche Bewegung. Die Musik „in­karniert“ im Tänzer und der Tänzer findet in das Erleben. Die Kombination Musik-Bewegung-Erleben bewirkt feine Veränderungen in der Neurotransmit­terausschüttung sowie im limbisch-hypothalamischen, neurovegetativen und Immunsystem.

Alle Tänze in Biodanza sind ausgesprochen kraftvolle, Erlebnisse auslösende Ökofaktoren. Sie potenzieren sich gegenseitig und führen zur Homöostase der organischen Funktionen sowie zur Regulation des integrativ-adaptiv-limbisch­hypothalamischen Systems. Außerdem bewirken sie wachsende Fülle und Le­benslust und dadurch Lebensqualität.

Erlebnisorientierte Methode

Biodanza ist als Methode darauf angelegt, integratives Erleben auszulösen, das in der Lage ist, kulturell bedingte Spaltungen zu überwinden.

Viele Menschen erleben heutzutage psychosomatische Störungen: sie denken das eine, fühlen etwas anderes und handeln unverbunden mit ihren Gefühlen. Die Einheit unserer Existenz ist ständig in Gefahr. Im Erleben vervollkommnet sich die neurophysiologische und existentielle Einheit des Menschen.

Ein Erlebnis ist die intensive Empfindung, hier und jetzt lebendig zu sein. Eine wesentliche Rolle kommt dabei koenästhetischen Empfindungen und Emotionen zu. Erlebnisse zeichnen sich durch unterschiedliche emotionale Färbungen wie Euphorie, Erotik, Zärtlichkeit, inneren Frieden etc. aus; eine Tatsache, die zum authentischen Ausdruck der Identität beiträgt.

Erleben und Emotion sind zwei verschiedene Dinge. Emotionen sind Reakti­onen auf äußere Reize, bei deren Ausbleiben sie ebenfalls verschwinden. Das Erleben ist eine Erfahrung, die die gesamt Existenz erfasst. Da der ganze Or­ganismus beteiligt ist, sind die Wirkungen des Erlebens tiefgreifend und dau­erhaft. Es hinterlässt das Gefühl, lebendig zu sein, transzendiert das Ich und ist ein Geschehen im Hier und Jetzt.

Erlebnisse auszulösen, die uns erlauben, wir selbst zu sein, ist eine neue Form der Erkenntnistheorie. Unsere intensiven instinktiven und affektiven Impulse werden von kulturellen Mustern unterdrückt. Tiefes Erleben, das die Einheit unseres gesamten Psychismus beeinflusst, ist die ursprüngliche Kraft des Le­bens.

Der rationale Umgang mit unseren Konflikten löst unsere dissoziativen Stö­rungen nicht wirklich. Dass wir uns unserer Konflikte bewusst sind, verändert deswegen noch nicht unser Verhalten. Das Erleben, lebendig zu sein, die ko­enästhetische Wahrnehmung unseres Körpers, kurz, die Möglichkeit, aufrich­tig wir selbst zu sein, ermöglicht uns eine integrierte und gesunde Existenz. Deswegen analysieren wir Konflikte nicht, sondern stimulieren durch inten­sive Erlebnisse den gesunden Teil unserer Identität. Der Augenblick ist der einzige Ort, an dem wir leben können.

Biodanza ist per Definition ein System zur Integration menschlicher Poten­tiale. Durch die am Erleben ausgerichtete Methode wird ein solcher Integ­rationsprozess möglich. Integration bedeutet „Koordination der Aktivitäten verschiedener Subsysteme mit dem Ziel, das harmonische Funktionieren eines größeren Systems zu gewährleisten“. Das Erleben ist der wesentliche Antrieb zur Integration der funktionellen Einheit: Wir bewohnen das Hier und Jetzt – in einer kosmischen Zeit.

Befreiende Kraft der Zärtlichkeit

Biodanza ist eine Poesie der menschlichen Begegnung

Für jedes Rehabilitations- oder Heilungsgeschehen ist die Verbindung zu ande­ren Menschen wesentlich. Einsames Wachstum existiert nicht (mystische oder therapeutische Techniken mit solipsistischem Charakter sind eine Illusion). Wachstum wird erst durch den Kontakt mit anderen Menschen möglich. Dabei reicht eine Verbindung auf verbaler Ebene nicht aus. Notwendig sind vielmehr, Paar- oder Gruppentänze sowie Kontakt und körperliche Nähe in einem Rah­men, der Sensibilität, Zärtlichkeit und Feedback beinhaltet.

Zu den therapeutischen und pädagogischen Wirkungen von Zärtlichkeit exis­tieren heutzutage viele wissenschaftliche Forschungsarbeiten. Hunderte von Autoren haben erkannt, dass Berührung den Selbstwert eines Menschen stei­gert und ihm affektiven Halt gibt. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass Berüh­rung allein nicht ausreicht. Was es braucht, ist die Verbindung, also einen wie auch immer gearteten physischen Kontakt, der von einer aufrichtigen affekti­ven Kraft bewegt wird.

Viele Therapierichtungen, die mit Kontakt arbeiten, besitzen wissenschaftliche Grundlagen. Zu den zahlreichen Forschern zählen: S. F. Harlow, Rene Spitz, Juan Rof Carballo, Juan Jose Lopez Ibor, John Bowlby etc.

Zärtlichkeit ist also nicht bloß Kontakt, sondern Verbindung. Therapierich­tungen ohne Körperkontakt der Beteiligten wirken dissoziierend, da sie aus­schließlich auf der Ebene des Bewusstseins arbeiten, das bedeutungsvolle Er­leben von Liebe und Verbundenheit jedoch außen vor lassen.

Affektivität als Kern jeglicher Therapie beinhaltet Verbindung, Mitbeteiligung und ein Wir im Sinne Martin Bubers.

Kraft der Trance

Trance ist ein veränderter Bewusstseinszustand, der eine Herabsetzung der Ich-Funktionen und eine Regression zum Ursprünglichen und damit gewisser­maßen zu vorgeburtlichen Stadien mit sich bringt. Es handelt sich dabei also um ein Phänomen der Regression zu den Anfangsstadien der Existenz.
Trance bewirkt biologische Erneuerung, weil sich im Zustand der Trance wie­der biologische Bedingungen wie zu Anfang der menschlichen Entwicklung (intensiverer Stoffwechsel und verstärkte koenästhetische Wahrnehmung) so­wie ursprüngliche Bedürfnisse wie Schutz, Nahrung und Kontakt einstellen.

Aus diesem Grund ermöglichen Trance-Übungen in Biodanza eine so genann­te „Wiederbeelterung“, d.h. in einen liebevollen und fürsorglichen Zusammen­hang hinein „neu geboren zu werden“. Viele Erwachsene tragen ein verletztes Kind in sich, ein verlassenes Kind ohne Liebe. Eine Wiederbeelterung ermög­licht, dieses Kind im Rahmen von Trance- und Wiedergeburtszeremonien zu heilen.

Zu den Werkzeugen von Biodanza gehört auch die neuartige Methode der Schwebe-Trance. Sie ermöglicht den Teilnehmern, in einen Zustand sanfter Hingabe und progressiver Trance zu gelangen.

Kraft der Bewusstseinserweiterung

Bewusstseinserweiterung bezeichnet einen Zustand erweiterter Wahrnehmung, der sich durch die Wiederherstellung der ursprünglichen Verbindung mit dem Universum auszeichnet. Seine Wirkung wird subjektiv als ein intensives Ge­fühl ontokosmologischer Einheit und transzendenter Freude erlebt.

Biodanza induziert Zustände erweiterten Bewusstseins durch Musik, Tanz und Begegnungszeremonien. Für den Zugang zur „höchsten Erfahrung“ sind Vorbereitung und ein gehobener Integrations- und Reifegrad erforderlich. Um progressive Veränderungen des Bewusstseinszustandes zu induzieren, nutzen wir folgende Vorgehensweisen:

• Übungen zur erweiterten Wahrnehmung von Natur und Menschen mit allen fünf Sinnen
• „Lesen der Seele“ beim Betrachten der Gesichter der anderen Teilnehmer nach der Trance
• Übungen des genussvollen Körperempfindens (Koenästhesie) zur Herabsetzung der Ich-Funktionen
– langsame Übungen des Fließens mit Hingabe
– Ekstase- und Intase-Übungen (Verbindung mit sich selbst)

Einige psychotherapeutische Methoden und Techniken zur inneren Entwick­lung nutzen für das Auslösen erweiterter Bewusstseinszustände Drogen und „magische Pflanzen“. In der transpersonalen Psychotherapie versucht man, diese Zustände auf andere Weise zu erreichen.

Albert Hofmann, Schöpfer von LSD-25 (Lysergsäurediethylamid), brachte eine neue Weise der Wahrnehmungs- und Empathieschulung auf: die „en­theogene Erfahrung“ in einem Rahmen intimer Vertrautheit mit dem Leben. Wissenschaftliche Ignoranz hat die Umsetzung seines Ansatzes erschwert. Die Leichtfertigkeit vieler Autoren, darunter Timothy Leary, hat dem Ansehen der durch LSD ausgelösten Erfahrung und damit der Menschheit sehr geschadet.

In Biodanza finden Drogen keine Verwendung. Stattdessen wird die Ausschüt­tung von natürlicherweise im Organismus vorhandenen Neurotransmittern aktiviert. Diese wirken dann genau wie entheogene Drogen. Nach dem Er­leben einer „höchsten Erfahrung“ (unbedingt begleitet) findet der betreffende Mensch neuen Lebenssinn und eine stärkere Verbindung zur Natur, anderen Menschen und sich selbst. Die Transtase (innerer Entwicklungssprung) besteht in der organischen Integration von Wahrnehmung, abstrakter Intelligenz und Affektivität.

Biodanza ruft durch Affektivitäts- und Transzendenzübungen ein Erleben von Fülle hervor. Häufig werden auch ekstatische Zustände ausgelöst. Zustände erweiterten Bewusstseins verändern dauerhaft das Erleben existentieller Sinn­haftigkeit und die Art und Weise, in der Welt zu sein. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ein Mensch von der Schöpfung als Ganzes, den Wäldern, Tieren und besonders seinen Mitmenschen verzückt ist.

Eine entheogene Erfahrung bedeutet, „das Göttliche im Menschen zu erwe­cken“. Sie besteht aus zwei Aspekten:

Ekstase (Verbindung mit der Außenwelt und den Menschen): Die Ver­tiefung dieses Zustandes kann zu kontemplativer Ekstase führen, bei der ein Mensch von der als unbeschreiblich schön erlebten Realität zu Tränen gerührt ist. Zugleich verlieren sich die Körpergrenzen und inten­siver Genuss stellt sich ein. Es kann auch zu einer starken Identifikation mit der Essenz eines anderen Menschen kommen. Diese führt zu einem vollständigen Verständnis des Mitmenschen und einem Gefühl intensi­ver Liebe und Brüderlichkeit. Koenästhetischer Genuss entsteht, wenn ein Mensch sich hingibt, er selbst zu sein, und plötzlich ein Medium der Musik ist, d.h. er oder sie selbst ist Musik. Das geschieht, wenn mit geschlossenen Augen, langsamen und harmonischen Bewegungen und tiefer Empfindsamkeit getanzt wird.

Intase: Plötzliche Bewusstseinserweiterung verbunden mit dem bewe­genden Erleben, zum ersten und einzigen Mal lebendig zu sein. Alle Seinsmöglichkeiten konzentrieren sich in diesem Moment. Dieses Er­leben wird von einem Gefühl der Schönheit und Fülle begleitet. Der Betreffende erlebt sich als lebendigen Teil einer organischen Totalität. Dazu kommt ein Gefühl von Ewigkeit (Zeitlosigkeit). Auf körperlicher Ebene werden Pulsieren, Kälteschauer und Gänsehaut empfunden.

Kraft der Gruppe

Die Gruppe in Biodanza ist wie eine Gebärmutter, die es ermöglicht, neu ge­boren zu werden. Sie durchläuft einen Prozess affektiver Integration und stellt ein sehr intensives Interaktionsfeld dar.
Biodanza ist kein solipsistisches System und auch kein System verbaler Kom­munikation. Die Kraft der Methode liegt im Erleben, das die Teilnehmer ge­genseitig in sich auslösen. Begegnungssituationen besitzen die Kraft, mensch­liche Einstellungen und die Art und Weise, sich aufeinander zu beziehen, grundlegend zu verändern.
Die Art und Weise der Gruppenbildung unterscheidet sich in ihrer Dynamik deutlich von traditionellen Gruppen.


[Foto © Valu Ribeiro]

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